März 2017: Äthiopien / Lalibela: Das Leben von Alebel

Der steinige Weg eines armen aber cleveren Studenten

Mein Name ist Alebel Abate. Ich wurde am 12. Mai 1992 als Sohn meines Vaters Abate Tarekegn und meiner Mutter Yezena Getaneh in Lalibela, einer Kleinstadt im nordäthiopischen Hochland geboren.

Mein Vater war ein Bauer und meine Mutter Hausfrau. Ich habe zwei Schwestern und zwei Brüder. Wir alle lebten zusammen bis sich meine Eltern aufgrund eines gesundheitlichen Problems scheiden liessen. Ich war damals sieben Jahre alt. Mit der Scheidung begann mein Leben kompliziert zu werden. Meine Mutter schickte mich zu meinem Vater, weil ihre wirtschaftliche Situation nicht erlaubte mich aufzuziehen und mich zu versorgen. Als ich bei meinem Vater lebte, verrichtete ich arbeiten wie Schafe, Ziegen oder Kühe zu hüten. Ausserdem trug ich Holz und holte in einem grossen Behälter Wasser vom Fluss. Als ich eines Tages die genannten Tiere hütete, rammte mich eine grosse Kuh und ich fiel eine Klippe hinunter. Bei diesem Unfall wurde ich schwer verletzt. Beim Ziegen hüten, fand mich einer meiner Freunde drei Tage später. Für drei Tage hatte ich nichts gegessen oder getrunken – nicht einen einzigen Schluck Wasser. Mein Vater und seine Nachbarn brachten mich nach Hause. Mein Vater brachte mich jedoch nicht ins Krankenhaus und meine Wunde entzündete sich. Ein ganzes Jahr lang behielt mich mein Vater zuhause ohne jegliche Medizin oder Behandlung. Zwar verabreichte mir ein älterer Mann traditionelle Medizin, die machte jedoch alles nur schlimmer. Ich weiss bis heute nicht warum mich Vater nicht einfach ins Krankenhaus brachte.

Nach einem Jahr holte mich meine Mutter zu sich nach Lalibela. Sie begann auch meine Wunde zu behandeln. Sie versuchte es auf traditionelle Art und Weise, z.B. mit Weihwasser, sie brachte mich jedoch auch ins Krankenhaus. Im Krankenhaus sagten sie, dass es bereits zu spät sei für eine Operation  und dass sie nichts für mich tun könnten, ausser mich zu einem grösseren Krankenhaus in z.B. Dessie oder Addis Abeba zu schicken. In dieser Zeit war meine Mutter sehr traurig, besorgt und wütend, zumal sich ihr drittes Kind in dieser kritischen Situation befand. Um ehrlich zu sein meine Mutter weinen zu sehen, tat mir mehr weh, als die Wunde. Das einzige was sie für mich tun konnte war zu Gott zu beten und ihn zu bitten, mich zu heilen. Als ich 9 Jahre alt und bereits ein Jahr wieder in Lalibela war, wanderten meine Mutter und ich mindestens sechs Mal 42 km weit zu den heiligen Kirchen von St. Bilbala, Georges und Yemerha Khristos. Nach einem halben Jahr waren die Schmerzen nicht mehr ganz so schlimm und ich versuchte meiner Mutter zu helfen, die enormen Schulden zurückzuzahlen, die sie gemacht hatte, um mich zu behandeln. Obwohl meine Wunde immer noch blutete sammelte ich im Wald Brennholz, denn wenn meine Mutter ihre Schulden nicht zurückzahlen könnte, wäre sie ins Gefängnis gekommen. Deshalb backte und verkaufte meine Mutter Brot und braute Tella, eine äthiopische Bierspezialität, während ich einerseits Feuerholz sammelte und verkaufte und andererseits auf dem Markt als Tagelöhner Geld verdiente.

Als ich zehn Jahre alt war und mich etwas vom Unfall erholt hatte, begann ich zur Grundschule zu gehen. In meiner Freizeit verrichtete ich immer noch die schon genannten Arbeiten. Weil ich das Brennholz auf dem Kopf transportierte, konnte die Wunde nicht heilen. Sie blutete und schmerzte sehr. Ausserdem hatte die Infektion der Wunde begonnen zu stinken, weswegen ich bis Ende vierte Klasse in der Schule immer alleine sitzen musste, um meine Mitschüler nicht zu stören. Als ich in die fünfte Klasse kam, begann meine Wunde langsam zu heilen. Ich glaube der Grund dafür waren meine häufigen Reisen zu St.Bilbala, Geaorges und Yemirha. Sie können sich vorstellen wie schwer es war, als Kind 42 km zu Fuss zu laufen. In meiner Zeit von der ersten bis vierten Klasse, ignorierten mich nicht nur mein Klassenkameraden, sondern auch meine Nachbarn und sogar meine Verwandten; einfach jeder abgesehen von meiner Mutter. Ich fühlte mich so einsam, dass ich Gott fragte, warum er mir erlaubt, auf der Erde zu sein. Diese Einsamkeit ist der Grund, warum ich bis heute Schwierigkeiten habe, mit Leuten zu kommunizieren, was wiederum psychologische Probleme in mir ausgelöst hat.

Obwohl ich immer sehr gut in der Schule war, schätzte mich niemand – nicht mal als ich eine Auszeichnung von meiner Schule erhielt. Dank der Gnade Gottes und dem unglaublichen Fleiss meiner Mutter schloss ich schliesslich die achte Klasse mit einem guten Resultat ab und konnte zur High-School gehen, die mit der neunten Klasse beginnt. Ich konnte mir jedoch keine Schuluniform und auch nicht die anderen erforderlichen Materialien leisten, da meine Mutter krank geworden war und nicht mehr arbeiten konnte, um mich zu unterstützen. Also musste ich für zwei Monate sieben Tage die Woche von morgens bis abends arbeiten, bis ich genug Geld für meine Ausgaben in der Highschool gespart hatte. Auch wenn ich dann wieder zur Schule gehen konnte, wurde mein Leben nicht leichter. In der Schule musste ich kämpfen, da ich viel verpasst hatte und als wär das nicht schon genug, musste ich mich auch noch um meine kranke Mutter kümmern

Oft ging ich zur Schule ohne irgendetwas den ganzen Tag gegessen zu haben – nicht mal ein kleines Stück Brot. Die einzige Option die ich hatte war einen Tag zur Schule zu gehen und den anderen Tag zu arbeiten, um Essen und andere lebensnotwendendige Dinge finanzieren zu können.

Ich machte so weiter, bis ich die Highschool abschloss. Als ich in der zehnten und letzten Klasse der Highschool war, hatte ich mich endlich von meinem Unfall erholt: Ich fühlte keine Schmerzen mehr, und auch die Wunde war verheilt. Einzig eine Narbe ist geblieben, die ich bis heute habe. Ich suchte Freunde indem ich anderen Schülern bei den Hausaufgaben, Klassenarbeiten und sogar beim Spicken half. Irgendwie gewann ich viel Selbstvertrauen in der Zeit, da ich nun viele Freunde um mich hatte, obwohl sie mich nur ausnutzten.

Im Jahr 2009 bestand ich erfolgreich die High School Abschlussprüfungen. 2010 begann ich dann zur Preparatory school zu gehen. Dort muss man zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wählen. Ich entschied mich für Geisteswissenschaften, weil ich herausfinden wollte, warum Menschen andere Menschen, die unter Armut, Behinderungen oder Gesundheitsproblemen leiden, verachten und ignorieren. Ausserdem wollte ich lernen, wie man sich zu einem Geschäftsmann und Unternehmer entwickeln kann, auch wenn man aus armen Verhältnissen kommt.

2010, als ich in der elften Klasse war, verdiente ich Geld in dem ich anderen Schülern Nachhilfe gab und in dem ich samstags auf dem Markt als Verkäufer arbeitete. Auf diese Weisen konnte ich Geld für meine Familie verdienen und konnte mir all meine Schulmaterialien wie die Uniform, Bücher, Kopien und so weiter leisten.

Das zwölfte Schuljahr entscheidet über die Zukunft der Schüler. Jeder Schritt war nun wichtig, damit ich es schaffen konnte, mein Leben zu ändern. Leider kam mir in dieser Zeit ein neues Problem in den Weg: Meine geliebte Mutter erblindete. Damit begann ein neues schwieriges Kapitel meines Lebens. Auf der einen Seite brauchte ich jede Minute, um mich um meine Mutter zu kümmern; auf der andere Seite jedoch musste ich mich auf die Schule konzentrieren, um anschliessend an eine gute Universität gehen zu dürfen. Für einen Monat musste ich in der Schule fehlen, um Geld für die Medizin meiner Mutter zu verdienen.

Zum Glück schaffte ich etwas Geld aufzutreiben, indem ich Nachhilfe gab und meinen Schrank verkaufte, den mir meine Freunde schenkten, nachdem ich jedes Jahr das beste Abschlusszeugnis hatte. Ausserdem bettelte ich bei meinen Verwandten um Hilfe, meiner Mutter eine Behandlung in einer Stadt namens Woldia zu finanzieren. Woldia liegt ungefähr 180km von Lalibela entfernt. Bis wir das Krankenhaus erreichten hatten, waren wir über eine Woche zu Fuss unterwegs. Unglücklicherweise konnten sie uns jedoch nur mitteilen, dass ihre Augen nicht mehr Heilbar waren, weil ihre Retina zu beschädigt war, durch die ständige Arbeit im Staub.

Nachdem ich schon eineinhalb Monate nicht mehr zur Schule gegangen war, fing ich an, in die zwölfte Klasse zu gehen. Der Schuldirektor wollte mich zwar von der Schule schmeissen, aber nach einer langen Diskussion, in der ich ihm meine Gründe erklärte, gab er mir eine letzte Chance. Mit der Hilfe Gottes schloss ich die zwölfte Klasse mit einem guten Zeugnis ab. In der Zeit zwischen dem Abschluss der Highschool und dem Beginn des Studiums hatte ich drei Monate Zeit, um Geld für Dinge wie die Reisekosten nach Gondar, wo sich die Universität befindet, zu verdienen. Deshalb gab ich wieder Nachhilfe und kaufte und verkaufte Eier und vieles mehr.

2012 begann ich Tourism Management an der Universität Gondar zu studieren. Die darauf folgenden drei Jahre waren sehr schwierig für mich aufgrund meiner finanziellen und sozialen Probleme. Das erste und auch grösste Problem war, dass ich nicht genug Geld hatte um Studienmaterialien wie Kopien und Handouts zu bezahlen.

Um etwas Geld zu verdienen, versuchte ich einen Job zu finden. Ich hatte jedoch kaum Zeit, da ich die meiste Zeit in der Universität beschäftigt war. Ich bewarb mich bei vielen verschiedenen Firmen, von denen mich jedoch die meisten Ignorierten und mich nicht einmal zu einem Gespräch einluden. Trotz dieser Hindernisse fand ich einen Weg, mein Studium fortsetzten zu können. Fortan lieh ich mir die Handouts von meinen Freunden und gab sie zurück sobald sie danach fragten – selbst wenn ich noch gar nicht fertig war. Ausserdem verbrachte ich viel Zeit in der Bibliothek und las viele alte aber auch neue Bücher.

Zur Universität zu gehen war nur möglich weil die Universität einen Schlafplatz sowie Mahlzeiten zur Verfügung stellte. Es war jedoch sehr unkomfortabel in einer Speisehalle mit 2‘000 Studenten zu essen und vor allem in einem winzigen Raum mit acht Leuten zu schlafen. Besonders wenn ich krank war, fühlte ich mich dort sehr unwohl. Dann war mir nämlich nicht erlaubt mit den anderen Studenten zu essen und ich konnte mir auch kein Brot und Tee leisten, da ich überhaupt kein Geld hatte. Immer wenn ich krank war, hungerte ich sehr.

Liebe Leser, ich erzähle Ihnen nun eine traurige Geschichte, die sich im ersten Semester meines Studiums abspielte: Einmal ging es mir sehr schlecht aufgrund einer Krankheit, die mir unbekannt war. Nach drei Tagen ohne zu essen wurde mein Gesundheitszustand schlimmer und schlimmer. Schlussendlich sammelten meine beiden besten Freunde 100 Birr, brachten mich mit dem Geld ins Krankenhaus, brachten mir Essen und pflegten mich gesund. Sie haben mich vor dem Tod bewahrt. Ich werde es ihnen nie vergessen und ich werde immer versuchen ihnen etwas für ihre Liebe und Sorge zurückzugeben.

Ein anderes grosses Problem war, dass ich meine blinde Mutter sehr vermisste. Vor allem weil sie dringend meine Hilfe brauchte. Einmal rief ich sie von der Telefonzelle aus an. Als ich mit ihr redete fing sie an zu weinen. Sie hatte kein Geld, das sie mir schicken konnte. Sie hatte nicht einmal genug, um ihre eigenen monatlichen Ausgaben zu decken. Nach langen Diskussionen mit meinen Verwandten konnte ich sie überzeugen, dass sie ihr 50 kg Getreide schickten, damit sie wenigstens nicht hungern musste.

Schlussendlich schloss ich mein erstes Semester ab. Vielleicht hat Gott meine Probleme verstanden, jedenfalls half er mir das beste Resultat meines Jahrgangs zu erzielen.

In den Semesterferien gab ich wieder Nachhilfe, um die Ausgaben meiner Mutter zu decken. Nach drei Monaten kehrte ich nach Gondar zurück und machte weiter, wie ich im ersten Semester begonnen hatte. Wieder erzielte ich das beste Resultat, bevor ich für die Semesterferien zum Arbeiten nach Lalibela ging. Nun musste ich ausserdem für die Uni arbeiten und lernen, da ja mein letztes Semester bevor stand.

Im dritten und letzten Semester hatte ich viele Ausgaben zu tätigen, aber meine Freunde sammelten für mich Geld und kauften mir sogar einen Anzug für die Abschlussfeier.

2014 schloss ich endlich mein Studium ab mit einem Durchschnitt von 3.82 Punkten (4 ist die maximale Punktzahl) und bekam eine Belohnung von den Universitätsverantwortlichen. Der Titel meiner Abschlussarbeit lautete: “The role of ecotourism for climate change adaption and mitigation.”

Nach meinem Abschluss machte ich mich auf die Suche nach einem Job. Ich hoffte, dass die Universität mich anstellen würde, aber ich hatte leider kein Glück. Aufgrund von Finanzproblemen konnte die Uni nämlich kein neues Personal einstellen. Ich bewarb mich bei so vielen verschiedenen Hotels und Unternehmen. Sie mochten auch meine Abschlussarbeit und besonders mein Abschlussresultat, aber sobald sie meine Narbe im Gesicht sahen, gaben sie mir keine Chance. Die einzige Möglichkeit auf einem Job hatte ich im Regierungsbüro, wo ich für ein sehr schlechtes Gehalt, das mir kaum zum Überleben reichte, arbeitete. Nach einem Jahr stellte mich jedoch ein freundlicher Hotelbesitzer ein. Das Gehalt ist zwar das gleiche, aber immerhin kann ich jetzt in meinem Metier, der Gastwirtschaft, arbeiten.

Nun bin ich 25 Jahre alt und lebe zusammen mit meiner Mutter und meinen beiden älteren Brüdern. Doch meine gesamte Familie verlässt sich auf mich. Ich hoffe, Unterstützung für einen Masterstudiengang zu erhalten, damit ich meine Familie endlich aus der Armut führen kann.

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